Interkulturelle Kompetenzen - Integration versus Assimilation

Der Begriff «Integration» ist so unscharf, dass er eine Vielzahl von Interpretationen zulässt (vgl. SEN 1996, S.39.).

Je nach ideologischem Hintergrund wird unter Integration das Verhältnis zwischen Majorität und Minorität, die assimilative Anpassung oder ein wechselseitiger Prozess des Aufeinanderzugehens und Voneinanderlernens verstanden, wobei die möglichen Änderungen von Kulturen berücksichtigt werden. Es soll ein Verständnis zwischen Kulturen entstehen. Dies ist nur dann möglich, wenn beide Seiten aufeinander zugehen. Integration ist ein Einfügungs- und Anpassungsprozess, der ein von Seiten der Migrant*innen nach Maßgabe der Gesetz- und Arbeitsmarktlage durchgemacht werden muss und als einzige Alternative im Umgang mit dem gesellschaftlichen «Kulturkonflikt» gesehen wird (vgl. Wölfl 1997, S.11f).

Sen (1996) unterscheidet zwischen der sozialen und der politischen Integration. Für die soziale Integration ist die rechtliche Sicherheit von Bedeutung. Ihr stehen Isolation und Radikalisierung gegenüber rassistischen Angriffen entgegen. Um Toleranz zu erreichen, sind Schritte nötig, die auf Gegenseitigkeit beruhen und den Abbau von Vorurteilen unterstützen.

Integration fordert Gleichberechtigung, Chancengleichheit und gegenseitigen Respekt. Dies ist jedoch im Alltag nicht selbstverständlich und leicht zu verwirklichen. Die Beibehaltung von kultureller Eigenart stößt auf Unverständnis und Intoleranz (vgl. DIF 1996, S.178).

«Wenn von Assimilierung hingegen die Rede ist, so ist damit die Anpassung einer Minderheit an die herrschende Mehrheitsgesellschaft gemeint. Während dieses Prozesses werden Werte der herrschenden Kultur aufgenommen» (Zit. n. Wölfl, 1997, S.10). Der Assimilationsprozess wird von der Toleranz bzw. der Intoleranz der Aufnahmegesellschaft bestimmt. Wird diese Anpassung von der dominierenden Kultur der Aufnahmegesellschaft aufgezwungen, wird die Bereitschaft die Wertmaßstäbe anzunehmen verhindert, weil die eigene Identität damit in Frage gestellt wird (vgl. Wölfl 1997, S.10).

Der Weg zu einer multikulturellen Gesellschaft ist ein langer Weg und darf nicht unterschätzt werden. Er ist eine Herausforderung, die mit Spannungen und oft auch mit Konflikten versehen ist. Die Auslöser dieser Spannungen sind meistens wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und machtpolitischer Natur, die sich oft religiös-kultureller und ethnischer Argumente bedienen. (vgl. Bade 1996, S.10ff.).

Der Hannoversche Politikwissenschaftler Axel Schulte meint, dass Einwanderungsminderheiten über ausreichende Möglichkeiten verfügen sollten, um ihre Kultur und Identität aufrechtzuhalten. Die Minderheiten sollten in Beziehung zu den Einheimischen gleichberechtigt sein. Die Befürworter von Multikulturalität sehen in ihr eine Chance zur Gestaltung, die Gegner hingegen sehen jedoch eine kulturelle Überfremdung (vgl. Bade 1996, S.17).

Kulturelle Identität

Die Identitätsarbeit bedarf kultureller Inhalte und Formen. Dies ist notwendig, um darzustellen, wie man sich sein Verhältnis zur Gesellschaft und zu sich selbst vorstellt, um sich seine persönliche Ordnung von Werten vorstellbar zu machen (vgl. Auernheimer 1993, S.85). Die Praxisformen einer Kultur bestimmen die kulturelle Identität. Sie ist ein Prozess, der vom historischen Individuationsprozess und den aktuellen Lebensbedingungen abhängig ist (vgl. Auernheimer 1990, S.116).

In diesem Zusammenhang wurde oft von Kultur gesprochen. Wir möchten hier zwei Kulturbegriffe gegenüberstellen:

Madeleine Leiningers Modell basiert auf einem statischen Kulturbegriff, nämlich den vom britischen Kulturanthropologen Edward Tylor (19.Jh.): «Kultur oder Zivilisation ist jenes komplexe Ganze, das das Wissen, den Glauben, die Kunst, die Moralauffassung, die Gesetze, die Sitten und alle anderen Fähigkeiten und Gewohnheiten umfasst, die sich der Mensch als Mitglied der Gesellschaft aneignet.»

Kultur und Sozialwissenschaftlerin Jutta Dornheim hingegen geht von einem dynamischen Kulturbegriff aus: «Kultur sollte vielmehr als dynamisches Bedeutungs- und Deutungsgefüge verstanden werden, das in interaktiven Prozessen gemeinsam und immer wieder neu produziert wird.»

Dieser Kulturbegriff ist prozessoffen und erlaubt Veränderungen.

Die Geschwindigkeit der Prozesse kann sehr unterschiedlich sein, sodass ein Ungleichgewicht entsteht. Daher ist es wichtig, die Prozesse beidseitig zu unterstützen.

In der Praxis vom alltäglichen Leben bis hin zur Schule und Arbeitsmarkt sollten Integrationsprozesse unterstützt werden. Das bedeutet vor allem Chancengleichheit, Demokratiearbeit, Selbstbestimmung und Mündigkeit sowie Respekt und Toleranz auf allen Ebenen. Der Ansatz darf nicht vom Defizitären ausgehen, sondern vom Potenzial, das jeder und jede in die Gesellschaft hineinbringt. Jeder und Jede ist nicht als Last, sondern als Bereicherung zu sehen. Nur so ist es möglich, die Augen vor den Potenzialen nicht zu verschließen und ermöglicht allen Beteiligten an den eigenen Stereotypen zu arbeiten.

Die Praxis

Die Praxis verlangt nach interkulturellen Kompetenzen auf beiden Seiten und nach Selbstwert und Selbstbewusstsein, um Diskriminierungen und Rassismus entgegen zu wirken. «Denn auch der Rassismus geht mit der Zeit. Biologistische Argumente sind ein alter Hut aus vergangenen Jahrhunderten. Heute geht es um Kultur. Religionszugehörigkeit wird ethnisiert und Ressentiments tarnen sich als Religionskritik (…). «Das Rassistische liegt in der angenommenen Minderwertigkeit und Unveränderlichkeit des anderen» schreibt dazu der Journalist und Verleger Jakob Augstein im Spiegel. Er verweist hier auf den Rassismus ohne Rassen, einen Begriff der Sozialwissenschaftler Etienne Balibar und Stuart Hall, der von der Existenz eines Rassismus ausgeht, bei dem der Begriff der Rasse nicht verwendet werde.

Dazu schreibt die Psychologin Sabine Grimm: «Denn für die Individuen, die als `Rasse‘ identifiziert werden und sich zum Teil selbst identifizieren, ist es ziemlich egal, ob die Biologie oder der Diskurs, Natur oder Kultur als Erklärungen dafür herangezogen werden, dass sie ausgegrenzt, stigmatisiert oder verbrannt werden.» (Erkurt 2020, S.41).

In der Praxis wirkt es unterstützend, wenn Integration von Partizipation abgelöst oder als solches verstanden werden kann. Es ist nicht ausreichend, dass Zugewanderte bessere Eingliederungschancen erfahren, sondern dass die Mehrheit die neu gewachsene kulturübergreifende Realität respektiert (vgl. John 2000, S 266).

Die Auseinandersetzung mit der eigenen Familienkultur und eigenen Stereotypen, Bedeutung von Mehrsprachigkeit, wertschätzende Kommunikation und Erwerb von Wissen und die Bereitschaft verstehen zu wollen, auch wenn man anderer Meinung ist, sich dem Neuen zu öffnen, um anderen die Öffnung zu ermöglichen sind wichtige Tools im Erwerb interkultureller Kompetenzen. Kritische Zugänge sind in diesem Diskurs wichtig und können wertfrei kommuniziert werden. Dafür braucht es eine Kommunikationskultur, wo viel Raum für Argumente, Respekt und Wertschätzung gegeben ist. Dieser Weg ist eine Chance ein Gemeinsames entstehen zu lassen, um sich in der lebendigen Mitte zu treffen.

»Die wahre Gemeinde entsteht nicht dadurch, dass Leute Gefühle füreinander haben (wiewohl freilich auch nicht ohne das), sondern durch diese zwei Dinge: Dass sie alle zu einer lebendigen Mitte in lebendig gegenseitiger Beziehung stehen und dass sie untereinander in lebendig gegenseitiger Beziehung stehen.»

Martin Buber

Text: Zeynep Elibol
Schuldirektorin in Wien, psychologische Beraterin
Expertin im Bereich interkulturelle und interreligiöse Kompetenz,
Lehrbeauftragte an der Universität Wien im Zertifikatskurs Spitalsseelsorge
Trägerin des Frauenpreises der Stadt Wien

Literatur

  • Auernheimer G.: Kulturelle Identität als pädagogisches Problem. In Fuchs, M. (Hg.). Kulturelle Identität, Remscheid 1993.
  • Bade J.K.: Die multikulturelle Herausforderung, München 1996.
  • Buber M.: Alles wirkliche Leben ist Begegnung, München 2017.
  • DIF (Deutschsprachige Islamische Frauengemeinschaft, (Hg.): Zur Situation muslimischer Kinder und Jugendlicher in Schule und Ausbildung, Köln 1996.
  • Dornheim J.: Kultur als Begriff und als Ideologie-historisch und aktuell. In D. Domenig (Ed.), Professionelle Transkulturelle Pflege, 2001.
  • Erkurt M.: Generation Haram, Wien 2020.
  • John, B.: Fremde, Opladen 2000.
  • Leininger M.M.: Kulturelle Dimensionen menschlicher Pflege, Freiburg im Breisgau 1998.
  • Sen F.: Türkische Migranten in Deutschland-Ein Überblick. Hg. V. Zentrum für Türkeistudien, Institut an der Universität GH Hessen, Duisburg 1996.
  • Wölfl H.: Denken anders halt, Diplomarbeit der Universität Wien 1997.

Übung »Interkulturelle Kompetenz«

Das Diversity Modell von Gardenswarz & Rowe (2002) stellt eine hilfreiche Orientierung im Umgang mit Unterschieden und Gemeinsamkeiten dar. Es ist ein weit verbreitetes Instrument zur Thematisierung von Differenzierungsmerkmalen und Gruppenzugehörigkeiten in Organisationen. Das Modell erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und ist vom gesellschaftlichen Kontext abhängig und daher veränderbar.

Das Modell postuliert: Je näher eine Dimension an unsere Persönlichkeit herankommt, umso schwieriger können wir sie verändern. «Kultur» ist in diesem Modell nicht als eigene Kategorie dabei, weil alle diese Teile gemeinsam, in einem bestimmten Kontext unserer Sozialisierung definiert, unsere eigene «kulturelle» Identität ausmachen.

Denn jeder Mensch trägt verschiedene kulturelle Identitäten in sich und greift je nach Situation auf sie zurück. Das Modell kann als Orientierungsrahmen dienen, um über Vielfalt zu diskutieren und Unterschiede reflektierbar zu machen. Wird es in ein Training zu interkultureller Kompetenz eingebaut, können zum Beispiel folgende Fragen mit den Teilnehmer*innen besprochen werden:

Fragen zur Selbstreflexion:

  • Welche Zugehörigkeiten (Dimensionen) spielen in meinem Leben eine Rolle?
  • Welche Dimensionen habe ich selber ausgesucht und welche wurden mir zugewiesen?
  • Welche kann ich verändern und welche Rolle spielt dabei der Kontext (die Gesellschaft), in dem ich mich befinde?
  • Durch welche „Brille“ sehe ich Menschen aus anderen Ländern oder gesellschaftlichen Gruppen?
  • Kann ich meinen Blick erweitern, um mehrere Dimensionen gleichzeitig zu sehen?
  • Durch welche „Brille“ sehen mich Menschen aus anderen Ländern bzw. gesellschaftlichen Gruppen?